Der Löwe frisst auch Zebras!

Ein ‚merk-würdiger‘ Vergleich

Menschen vergleichen sich, ganz im Geiste der vermittelten Werte unserer Leistungsgesellschaft, gerne mit selbst gewählten oder medial inszenierten Vorbildern, um sich selbst zu motivieren und ihr Verhalten in eine gewünschte Richtung zu verändern. Zum Beispiel um besser, schneller, schlanker, reicher, populärer, erfolgreicher zu werden. Umgekehrt nutzen wir Vergleiche mit anderen aber auch für das genaue Gegenteil, um ’nachzuweisen‘, dass ein Verhalten, für das uns andere kritisieren, völlig unbedenklich ist, und wir uns deshalb auf gar keinen Fall ändern werden. Sportgegner*innen vergleichen sich beispielsweise gerne mit Sir Winston Churchill.[1]Sir Churchill wird die Aussage ‚absolutely no sports‘ zugeschrieben. Er soll diese Antwort einem Reporter gegeben haben, der ihn nach dem Geheimnis fragte, wie er, trotz regelmäßigen … Continue reading Für Kettenraucher*innen ist Helmut Schmidt ein großes Vorbild. Sowohl Churchill als auch Schmidt gelten auch lange nach ihrem Tod als Beweise dafür, dass Bewegungsmangel beziehungsweise exzessiver Nikotinkonsum die menschliche Gesundheit keineswegs gefährden, sondern ein langes Leben bei wachem Verstand geradezu garantieren.

Fleischesser*innen gehen noch einen Schritt weiter. Werden sie auf die ethische, ökologische oder gesundheitliche Bedenklichkeit des Konsums tierlicher Produkte angesprochen, vergleichen sie sich nicht mit menschlichen Vorbildern, sondern erklären: »Der Löwe frisst schließlich auch Zebras! Wieso sollte ich kein Fleisch essen?«

Naheliegende Fragen …

Das ‚Löwenargument‘ ist ein Klassiker, der in fast jedem Gespräch (und garantiert in jeder Social-Media-Diskussion) zwischen Fleischesser*innen und vegan lebenden Menschen irgendwann auf den Tisch kommt – und fast immer für eine gereizte Stimmung sorgt. Zunächst fühlen sich Veganer*innen durch diese Aussage provoziert. Sie können es schlicht nicht fassen, dass ein erwachsener, potenziell vernunftbegabter Mensch allen Ernstes die Überzeugung vertritt, der Vergleich mit einem Löwen legitimiere tatsächlich sein eigenes Konsumverhalten.

Sie reagieren dann meist mit ein paar aus ihrer Sicht naheliegenden Rückfragen und Anmerkungen:

  • Inwiefern ist der Vergleich eines vermeintlich zivilisierten Menschen in Mitteleuropa mit einem in der Wildnis auf fernen Kontinenten lebenden Raubtier in irgendeiner Hinsicht relevant für die moralische Beurteilung des menschlichen Fleischkonsums hier und jetzt?
  • Inwiefern kann die Übereinstimmung zwischen einem bestimmten Tier und einer Gruppe Menschen in nur einem einzigen Merkmal, nämlich ‚Fleisch essen‘ ein seriöser, valider Beweis für die Legitimität dieses Merkmals sein?
  • Wenn schon der Vergleich mit einem wilden Tier, warum ausgerechnet mit dem Löwen? Warum sollten wir uns nicht mit Nashorn, Elefant, Nilpferd oder der Giraffe vergleichen, oder mit einem Tier, das zumindest ein näherer Verwandter des Menschen ist, zum Beispiel dem Gorilla?
  • Wenn der Löwe ein derart inspirierendes Vorbild ist, warum nehmen die Fleischesser*innen ihn sich nicht auch in anderen Alltagssituationen zum Vorbild? Löwen riechen sich beispielsweise gegenseitig am After, wenn sie sich begegnen. Könnte das nicht auch ein bereicherndes menschliches Ritual sein, z.B. im Rahmen von Vorstellungsgesprächen, bei Familienfeiern oder in der Warteschlange im Supermarkt?
  • Umgekehrt gibt es eine ganze Menge von Dingen, die der Löwe allesamt nicht tut, Fleischesser*innen aber seltsamerweise schon. Der Löwe hat zum Beispiel kein Auto, bewohnt kein Haus mit Zentralheizung und fließend Wasser, hat weder Laptop, Smartphone noch Kühlschrank, züchtet seine Fressopfer nicht in irgendwelchen Tierfabriken, beraubt sie nicht ihrer Freiheit, stopft sie nicht voll mit Hormonen und Antibiotika, delegiert ihre Tötung nicht an Dritte, verzichtet völlig auf raffinierte Zubereitungsmethoden und (vegane!) Gewürze und vieles mehr.
    Warum aber praktizieren Tierproduktkonsument*innen all das, obgleich ihr erklärtes Idol auf diese Segnungen der Zivilisation komplett verzichtet?

Diese Fragen führen meistens dazu, dass sich jetzt die Fleischesser*innen provoziert fühlen. Sie halten diese Fragen für unsachliche ‚vegane Polemik‘. Es folgt dann entweder der beleidigte Gesprächsabbruch, oder die Diskussion eskaliert und wird persönlich.

Will man eine Idee davon bekommen, welche Überzeugungen hinter dem Löwenargument stecken, empfiehlt es sich, die Aussage zunächst gar nicht zu kommentieren, sondern neugierig-interessiert nachzufragen: „Was sagt das Verhalten des Löwen über uns Menschen aus?“

Als ich das letzte Mal diese Frage gestellt habe, bekam ich folgende Antwort:

„Andere Tiere fressen schließlich auch Tiere. So ist nunmal die Natur. Und glaubst du etwa ernsthaft, der Löwe hätte irgendwelche moralische Skrupel, dich zu fressen.“

Eine interessante Antwort, die gleich mehrere grundlegende Annahmen des karnistischen Glaubenssystems offenbart.[2]Karnismus ist ein gesellschaftlich dominantes mentales Modell. Das Modell enthält eine Reihe von tief verwurzelten Glaubenssätzen, die unsere Wahrnehmung steuern und uns in die Lage versetzen, … Continue reading

Andere Tiere fressen schließlich auch Tiere!

Dieses Argument ist schon deshalb sehr interessant, weil Fleischesser*innen ansonsten beim gesamten Thema Tierhaltung, jegliche Ähnlichkeit zwischen Mensch und Tier oft vehement bestreiten oder mindestens stark relativieren. Spricht man sie beispielsweise auf die entsetzlichen Qualen an, die die Tiere durch die gängigen Praktiken in den Mastanlagen und Schlachthöfen erleiden (z.B. Schreddern bei lebendigem Leib, Verstümmelung ohne Betäubung, Fehlbetäubungen, u.v.m.), beeilen sie sich, klarzustellen, dass es ja ‚nur Tiere‘ sind, nichts weiter als dumme, gefühllose Fleischklumpen, die man doch bitte nicht ‚vermenschlichen‘ soll.

Was taugt das ‚Tiere-töten-auch-Tiere-Argument’ zur Rechtfertigung menschlichen Fleischkonsums? Es ergeben sich erneut eine Reihe von Fragen:

  • Es stimmt: manche Tiere sind Fleischfresser. Sie töten andere Tiere und fressen sie. In der Natur gibt es aber weitaus mehr Pflanzenfresser, die andere Tiere nicht vorsätzlich töten. Wir könnten uns doch auch diese Tiere zum Vorbild nehmen. Der Löwe tötet und frisst andere Tiere, weil er als Karnivore keine andere Wahl hat, um zu überleben. Menschen können zwar auch Tiere essen, müssen es aber nicht. Als Omnivoren haben wir die Wahl. Warum also sollten wir anderen vorsätzlich Leid zufügen, wenn das nicht notwendig ist?
  • Die Logik 1) Tiere töten Tiere, 2) der Mensch ist auch ein Tier, also 3) darf der Mensch auch andere Tiere töten ist auch ziemlich gruselig, wenn man sie konsequent zu Ende denkt. Wenn wir 1) bis 3) als wahr akzeptieren, dann ergibt sich daraus zwangsläufig 4) wenn Menschen Tiere sind, und wenn Tiere Tiere töten, dann darf der Mensch auch das Tier Mensch töten. Wollen wir das ernsthaft? Wäre das nicht ein herber zivilisatorischer Rückschritt?
  • Diese mehrstufige Logik müssten wir nicht mal unbedingt bemühen, denn wenn jemand sagt ‚Tiere töten auch Tiere‘, könnten wir auch direkt antworten: „Ja, und Menschen töten Menschen. Das heißt doch aber noch lange nicht, dass das auch richtig ist.“

So ist nunmal die Natur

Die Natur funktioniert tatsächlich nicht nach moralischen Maßstäben. Das ist unbestreitbar. Nur, was folgt daraus für menschliches Handeln? Ist ein Verhalten automatisch moralisch gerechtfertigt, nur weil es in der Natur vorkommt? Natürlich nicht.[3]Den Versuch, aus der ‚Natur‘ der Dinge abzuleiten, wie diese sein sollten und ihnen damit einen moralischen Wert zu unterstellen nennt man ’naturalistischer Fehlschluss‘. Ein … Continue reading

Drei Beispiele:

  • In der Natur ist zum Beispiel bei manchen Tierarten (z.B. bei Enten) Vergewaltigung die ’normale‘ Art der Paarung und Fortpflanzung.
  • Wenn ein Löwe Führer eines Rudels wird, dann wird er die Jungen aller bereits trächtigen Löwinnen töten, sobald sie geboren werden, damit die Löwinnen möglichst schnell bereit sind, von ihm geschwängert zu werden und seine Gene sich durchsetzen können.
  • Unter Primaten ist Xenophobie ein weit verbreitetes Phänomen. Innerhalb einer Spezies gibt es eine Vielzahl von Gruppen, die allen Artgenossen außerhalb der eigenen Gruppe extrem feindselig begegnen, bis hin zur Inszenierung kriegerischer Handlungen.[4]Die Tierforscherin Jane Goodall beschreibt zum Beispiel kriegerische Handlungen zwischen einzelnen Gruppen von Schimpansen. http://www.zeit.de/2011/34/Forschung-Jane-Goodall/seite-3

Wir sind uns heute weitgehend einig, dass all diese Handlungen schreckliche Gewaltverbrechen darstellen, wenn sie von Menschen begangen werden. Zivilisatorischer Fortschritt besteht genau darin, dass wir unsere Fähigkeit, richtig und falsch zu unterscheiden, nutzen, um das Richtige zu tun und das Verwerfliche zu ächten. Die Forderung, alles tun zu dürfen, was scheinbar ’natürlich‘ ist, wäre ein Rückfall in die finstersten Zeiten der Menschheitsgeschichte.

Der Löwe kennt auch keine Moral

Der Hinweis, dass der Löwe auch keine Moral kennt, bringt zusätzlich noch einen weiteren Glaubenssatz ins Spiel: „Wie du mir, so ich dir“. Es stimmt, dass der Löwe wohl keine Gewissensbisse hat, wenn er ein Zebra tötet. Sehr wahrscheinlich würde er auch uns ohne moralische Bedenken töten, wenn er Hunger hätte oder sich von uns bedroht fühlte (oder wir mit ihm das ‚Löwenargument‘ diskutieren wollten). Nur, was sagt das über unser moralisches Recht aus, Fleisch zu essen? Gar nichts.

Moralisches Verhalten in einer zivilisierten Gesellschaft bedeutet, dass wir anderen leidensfähigen Lebewesen nicht vorsätzlich vermeidbares Leid zufügen. Auch Lebewesen, die selbst nicht oder nur bedingt moralisch handeln können, haben Anspruch darauf, ihrerseits nach moralischen Ansprüchen behandelt zu werden.[5]Ethik unterscheidet moralische Subjekte und moralische Objekte. Erstere sind moralische Akteure, die zwischen Handlungsalternativen bewusst und unter moralischen Erwägungen wählen können … Continue reading Wenn ein kleines Kind mit einer Waffe spielt und dabei seinen Vater erschießt, würden wir dem Kind nicht vorwerfen, es sei moralisch verwahrlost. Wir würden von einem tragischen Unglück sprechen und hätten vermutlich sogar aufrichtiges Mitgefühl mit dem Täter. Auch manche alten Menschen oder Menschen mit bestimmten Krankheitsbildern würden wir nicht moralisch verantwortlich machen, wenn sie jemand ohne Bewusstheit der eigenen Schuld töten. Wenn ein Kind im Zoo über den Zaun des Bärengeheges klettert und dort von einem Bär getötet wird, dann würden die Medien auch in diesem Fall von einem Unglück sprechen und nicht mal die Boulevardpresse würde auf die Idee kommen, die moralischen Defizite des Bären zu erörtern.

Es ist also moralisch betrachtet völlig absurd, aus der Tatsache, dass der Löwe andere Tiere tötet, ableiten zu wollen, dass wir das auch tun dürfen. Wer im 21. Jahrhundert das Prinzip ‚Wie du mir, so ich dir‘ predigt, spricht nicht von persönlichen Freiheitsrechten, sondern vom vermeintlichen Recht des Stärkeren.

Ein Sonderfall wäre eine ausweglose Notwehrsituation. Wenn wir tatsächlich irgendwo im Dschungel, ohne Fluchtmöglichkeit, Auge in Auge einem Löwen gegenüberstehen, dann wären wir tatsächlich berechtigt, den Löwen in Notwehr zu töten. Vielleicht würde aber auch der Löwe die Gunst der Stunde nutzen, um einen weiteren karnistischen Glaubenssatz, nämlich ‚Der Mensch steht an der Spitze der Nahrungskette‘, kompetent und nachhaltig zu widerlegen.

Selbst wenn wir das Argument ‚Wie du mir, so ich dir‘ generell als moralisch akzeptabel einstufen würden, dann würde das dennoch lediglich bedeuten, dass wir Löwen töten dürfen, oder andere Raubtiere, die uns auch töten würden. Der Mensch ernährt sich aber nicht von Löwen, sondern überwiegend von Pflanzenfressern, die uns weder bedrohen noch fressen wollen. Die Tiere, die wir essen, sind meist freundliche, friedfertige Lebewesen, die selbst dem Schlachthofpersonal noch vertrauensvoll die Hand lecken, weil die mörderische menschliche Niedertracht weit jenseits ihrer Vorstellungskraft liegt. Wenn schon ‚Wie du mir, so ich dir‘, dann doch bitte im Sinne von ‚Ihr lasst uns in Ruhe, also lassen wir euch in Ruhe.‘

“Moral fragt nicht, was Tiere in der Wildnis tun, sondern welches menschliche Verhalten in einer zivilisierten Welt angemessen ist.”

Charles Horn: Meat Logic – Why do we eat animals?
Armin

Quellen und Fußnoten

Quellen und Fußnoten
1 Sir Churchill wird die Aussage ‚absolutely no sports‘ zugeschrieben. Er soll diese Antwort einem Reporter gegeben haben, der ihn nach dem Geheimnis fragte, wie er, trotz regelmäßigen Konsums von Whiskey, Zigarren und Champagner, ein derart hohes Alter habe erreichen können. Das Zitat ist sehr populär, obwohl es keine Beweise gibt, dass Sir Churchill das tatsächlich gesagt hat. Außerdem hat Sir Winston Churchill zumindest in jungen Jahren durchaus sehr viel Sport getrieben. https://de.wikipedia.org/wiki/No_Sports
2 Karnismus ist ein gesellschaftlich dominantes mentales Modell. Das Modell enthält eine Reihe von tief verwurzelten Glaubenssätzen, die unsere Wahrnehmung steuern und uns in die Lage versetzen, entspannt mit dem Widerspruch umzugehen, dass wir Tiere einerseits lieben, sie aber gleichzeitig ausbeuten, quälen und töten. vgl. hierzu: Melanie Joy: Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen. Compassion media.
3 Den Versuch, aus der ‚Natur‘ der Dinge abzuleiten, wie diese sein sollten und ihnen damit einen moralischen Wert zu unterstellen nennt man ’naturalistischer Fehlschluss‘. Ein Verhalten ist nicht per se gut und richtig, nur weil es in der Natur vorkommt. vgl. hierzu auch https://de.wikipedia.org/wiki/Naturalistischer_Fehlschluss
4 Die Tierforscherin Jane Goodall beschreibt zum Beispiel kriegerische Handlungen zwischen einzelnen Gruppen von Schimpansen. http://www.zeit.de/2011/34/Forschung-Jane-Goodall/seite-3
5 Ethik unterscheidet moralische Subjekte und moralische Objekte. Erstere sind moralische Akteure, die zwischen Handlungsalternativen bewusst und unter moralischen Erwägungen wählen können (erwachsene, geistig gesunde Menschen). Moralische Objekte sind empfindungsfähige Lebewesen, die selbst nicht moralisch handeln können. vgl. hierzu: Hilal Sezgin: Artgerecht ist nur die Freiheit. C. H. Beck Verlag.